Lorenzo Vigas: Der Goldene Löwe im Gespräch

Lorenzo Vigas hat mit seinem Langfilmdebüt „Desde allà“ („From Afar“) am Samstag den Goldenen Löwen in Venedig gewonnen – als erster venezolanischer Regisseur überhaupt. Sein Film erzählt die Geschichte des Mittfünfzigers Armando (Alfredo Castro), der sich auf den Straßen von Caracas junge Burschen kauft, sie aber nie anrührt, weil er emotional nicht in der Lage ist, Nähe zuzulassen. Ein kurzes Gespräch mit Vigas über seinen Film.

Lorenzo Vigas (Foto: Greuling)
Was sagt uns Ihre Hauptfigur über den Zustand Venezuelas? Gibt es da einen Zusammenhang?
Lorenzo Vigas: Ja, den gibt es. Ich wollte von einer Figur erzählen, die diametral entgegengesetzt zu der Gesellschaft funktioniert, in der sie lebt. Wir in Venezuela sind sehr physische Menschen, wir umarmen einander gerne, küssen und berühren uns. Wir machen sehr oft Liebe. Armando erlebt das alles von einer Distanz aus und erlaubt niemandem, ihn zu berühren. Mit diesem Kontrast wollte ich spielen. Elder, der junge Mann, den sich Armando kauft, repräsentiert hingegen die wilde, ungestüme Seite Venezuelas, und sein Verhalten ist auch so etwas wie die Konsequenz aus dem, was heute die Alltagsrealität Venezuelas ist in politischen und ökonomischen Aspekten. Viele junge Männer müssen sich ihr Leben auf den Straßen suchen, weil es keine Jobs gibt und Venezuela die größte Inflation der Welt hat.

Die Geschichte erzählt von Homosexualität, aber auch von einer Art väterlicher Zuneigung.
Das stimmt. Es ist aber kein Film über Homosexualität, sondern über emotionale Bedürfnisse. In Venezuela sind wir in einigen Weltanschauungen noch hinterher. Homosexualität ist in vielen südamerikanischen Ländern stigmatisiert und wird radikal abgelehnt, weshalb ich das als Thema im Film haben wollte. Es geht aber auch um das Verhältnis zwischen Vätern und ihren Kindern. Das ist in Südamerika speziell. Denn die meisten Kinder werden von der Mutter großgezogen. Der Vater ist als Erzeuger zwar da, aber er kümmert sich nicht um die Erziehung.

„Desde allà“ ist farblich flau gehalten, auch isoliert er seine Figuren gerne vor unscharfen Hintergründen. Ihr visuelles Konzept dahinter?
Ich wollte den Figuren ein Stück weit ihre Geheimnisse lassen. Nicht alles, was passiert, muss man dem Zuschauer auch zeigen. Er kann sich selbst ein Bild ausmalen. Armando sollte wie ein Geist durch Caracas wandeln. Er ist zwar physisch anwesend, aber sein Innenleben ist in seiner Vergangenheit gefangen, in der er emotional verhaftet ist. Deshalb isolieren wir ihn optisch mit vielen Einstellungen, in denen Unschärfe eine Rolle spielt.

„Desde allà“ (Foto: La Biennale di Venezia)

Wie ist die Situation der Filmschaffenden in Venezuela?
Alles andere als rosig. Wir haben zwar viele junge Filmemacher, die das Medium als ihre kreative Stimme nutzen, aber es gibt nur sehr begrenzte Budgets. „Desde allà“ wurde vom venezolanischen Zentrum für Kinematografie gefördert, aber die Förderung, die man zugesprochen bekommt, verfällt durch die hohe Inflation so schnell, dass man zu wahnsinnig raschem Arbeiten gezwungen ist. Es macht die Arbeit immens kompliziert, wenn sich das Budget innerhalb weniger Wochen halbiert.

Haben Sie damit gerechnet, in Venedig zu gewinnen?
Nein, für mich ist das einfach unglaublich, noch dazu, weil es der allererste venezolanische Film war, der jemals hier im Wettbewerb gezeigt wurde. Ich genieße diesen Augenblick gerade sehr.

Interview: Matthias Greuling, Venedig

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