Das Biest in unterschiedlichen Zeitaltern

„La bête“ von Bertrand Bonello bei der Viennale.

„Ich habe mein Leben damit verbracht, nur an schreckliche Dinge zu denken, die ich nicht nachvollziehen kann“ sagt Gabrielle (Lea Seydoux) zu ihrem Geliebten Louis (George MacCay, der den bei einem Skiunfall tragisch verstorbenen Gaspard Ulliel ersetzt).  „Weil sie zu schrecklich sind, um sie zu verstehen?“, entgegnet ihr dieser. Mit diesem Dialog lässt sich die erste Sci-Fi Romanze des französischen Regisseurs Bertrand Bonello (Coma) gut titulieren. Es ist die zweite Verfilmung von Henry James‘ Die Bestie im Dschungel, die dem Kino-Publikum 2023 nach „The Beast in the Jungle“ von Patric Chiha präsentiert wird. In dieser Novelle aus dem Jahr 1903 geht es um John Marcher, dem es nicht gelingt, sein Leben voll auszuleben, weil er von Vorahnungen einer Katastrophe heimgesucht wird, die sich aber nie bewahrheiten. Im Zeitalter von Klimawandel, künstlicher Intelligenz und anderer Anzeichen für den Untergang der Menschheit ist diese Geschichte offenbar von großer Relevanz.

Gabrielle und Louis umkreisen sich in Bonellos Werk gegenseitig durch die Zeit, und alles spielt in drei verschiedenen Zeitebenen: 1910, 2014 und 2044. In einer nahen Zukunft, in der Emotionen zu einer Bedrohung geworden sind und künstliche Intelligenz die menschliche Gesellschaft ihrer Vitalität und ihrer grundlegenden Beschäftigung beraubt hat, beschließt Gabrielle schließlich, ihre DNA in einer Maschine zu reinigen, die sie in ihre früheren Leben zurückversetzt und sie von allen starken Gefühlen und Erinnerungen befreit.

Besagte Katastrophe findet nun gerade statt, schwebt zukünftig dumpf in der Luft oder liegt bereits in der Vergangenheit. Im Jahr 1910 treffen sich Gabrielle und Louis in der High Society der Belle Époque, am Vorabend der großen Flut von Paris, als die Seine über die Ufer trat und große Zerstörungen anrichtete. Die beiden fühlen sich zueinander hingezogen, aber Gabrielle gibt sich reserviert, da sie von Visionen einer Katastrophe heimgesucht wird. Etwas mehr als ein Jahrhundert später, im Jahr 2014, ist die Dynamik jedoch eine ganz andere, und die Katastrophe ist Louis selbst – jetzt ein wohlhabender, für Männerrechte eintretender Incel aus Los Angeles mit einer zunehmend verstörten Abneigung gegen Frauen, die französische Model-Schauspielerin Gabrielle irrt inzwischen einsam in einer feindseligen, unbekannten Stadt umher und wird von Louis gestalkt.

Diese Version der Figur Louis basierte auf dem Amokläufer Elliot Rodger, der ein frauenfeindliches Manifest auf YouTube hochgeladen hatte und am 23. Mai 2014 in der Nähe des Campus der University of California, Santa Barbara, sechs Menschen tötete, vierzehn weitere verletzte und sich schließlich selbst richtete. Indem er James‘ Parabel von der Selbstisolierung über die Zeitlinien hinweg auf einen Punkt zusteuern lässt, an dem die Menschen freiwillig ihre Seelen aushöhlen, um effizienter zu leben, hat Bonello einen Film gedreht, der spürbar von einem Mangel an menschlichem Kontakt und Verbindungen frustriert ist. Naturkatastrophen, toxische Maskulinität und die Gewaltübernahme durch Technologie stehen hier im Mittelpunkt. Die Art der Inszenierung ist eine Erinnerung daran, dass Bonello immer noch zu den großen, verschmitzten Formalisten des zeitgenössischen französischen Kinos zählt. Sarah Riepl

Viennale-Termine:
24.10., 21.00 Uhr, Gartenbau
25.10., 14.30 Uhr, Gartenbau

Tickets: www.viennale.at

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